Mett [Kurzgeschichte]

Noch waren Möwen in der Luft, sie hatten die Hoffnung Beute zu machen. Es war Flut, die Brandung schäumte, trug vieles Kleingetier mit sich auf den Strand.

Etienne lehnte an das Geländer der Strandpromenade und betrachtete das Schauspiel der Vögel. Es hatte etwas vom Schlussverkauf – Ein Kampf um die besten Brocken. Ein wildes Kreischen der Flugtiere vertonte die Szene.

Er wand sich davon ab, denn er genoss lieber die letzten warmen Strahlen, die auf sein Gesicht fielen und war, selbst für ihn überraschend, völlig entspannt, ließ sich von den Geräuschen und Lichtern um sich herum leicht hypnotisieren.

Der Abend kam näher und mit ihm die ersten kühlen Brisen nach der Hitze des vergangenen Tages.
Langsam wandelte sich das sanfte Gelb zu einem intensiven Rot, während die Sonne am Horizont im Meer versank.
Wie aus einer leichten Trance erwacht fand sich Senior Basque, wie Etienne mit Familiennamen hieß, einige Zeit später noch an das Geländer gelehnt wieder.
In seiner Hand hielt er immer noch das Glas Sherry, welches er aus der Bar des Hotels mitgenommen hatte. Noch hatte er keinen Schluck getrunken. Da das Eis in seinem Glas, welches zuvor eine Traubenform hatte, bereits geschmolzen war, kippte er den Inhalt des Bechers weg. Der Mann Mitte Dreißig hasste verwässerte Drinks. Ganz besonders nach einem solchen Tag.

Die Hitze des Tages allein war schlimm genug. Die Leute verlieren bei über dreißig Grad im Schatten einfach viel zu schnell die Verfassung, den Respekt einander gegenüber. Da konnte er als Vertriebler keine guten Geschäfte machen, es war einfach zu schwierig die Leute von dem Mehrwert seiner Produkte zu überzeugen. Das Übliche halt, konnte man mit leben.

Und doch war dieser Tag schlimmer als alles, was er bisher erlebt hatte.

***

Es fing alles schon vor dem Frühstück an. Noch bevor er die Augen öffnen konnte stürmten fünf, vielleicht sechs Polizisten in sein Hotelzimmer, dem Zimmer Nummer 309. Sie überwältigten ihn im Schlaf und legten Ihm halbnackt, wie er war – Etienne schlief stets nur mit dem Pyjamaoberteil – Handschellen an. Sie gingen nicht sanft mit ihm um, doch sagte kaum einer etwas. Sobald er Fragen stellte, bekam er zunächst nur ein „Fresse halten!“ als Antwort, bei wiederholten Versuchen seinerseits die Situation zu verstehen, schlug man ihm in den Magen, sodass ihm schlecht wurde.
Es wurde ihm bald klar, dass es besser war, nichts zu sagen.

Was folgte, war ein Albtraum. So wie er war, wurde er direkt abgeführt, ohne jegliche Erklärung. Lediglich eine Jacke durfte er sich um die Lenden halten. Da seine Hände auf dem Rücken fixiert waren, war es ein kleines Kunststück, dass er bis in den Polizeitransporter sein Gemächt verstecken konnte, sein Hintern allerdings war blank.
Trotz der frühen Stunde schauten viele andere Gäste ob des Tumults auf den Flur der Etage, während er abgeführt wurde.
Sein Kopf schmerzte und rauchte. Ständig fragte er sich, was los war, was nun geschehen würde.

Er beugte sich der Gewalt des Staates, als sie ihn in die kleine Zelle des Transporters quetschte, ankettete. Zunächst hielt er sich noch an der Jacke fest, doch mit einem Ruck entzog der Polizist sie ihm und schloss diesen Stahlkäfig ab, in den sie ihn verfrachtet hatten.

Das Fahrzeug startete und fuhr unmittelbar an.
Etienne konnte nicht erkennen, wohin es ging, doch schien die Fahrt eine Ewigkeit zu dauern.
Erfüllt von Wut wusste Etienne dennoch, dass es keinen Sinn machte, aufzubegehren oder Fragen an die Polizisten zu richten, die er zwar nicht sah, aber dennoch ganz sicher auch im Fahrzeug saßen.

Nach einiger Zeit fuhr der Transporter in ein Parkhaus. Senior Basque erkannte es am Gefälle, dem Geräusch des Fahrzeuges und der plötzlichen Dunkelheit.
Die Türen wurden geöffnet, unmittelbar nachdem der Wagen anhielt und er wurde aus seiner Zelle herausgeholt.
Er erkannte die Polizeizentrale von Paris, genauer gesagt die Tiefgarage. Einst hatte er seinen Vater begleitet, als er noch ein kleiner Junge war. Sein Papá war immer ein Mann gewesen, zu dem er aufsah, in dessen Fußstapfen er treten wollte. Doch dann einige Jahre später – Etienne war mitten in der Pubertät – verschwand sein Vater während eines Einsatzes. Die Ermittler fanden späte nur wenige Bluttropfen an seiner letztbekannten Position.

Der Verlust seines Papás ohne die Möglichkeit sich zu verabschieden hat Etienne lange Jahre traumatisiert. Da wenige Monate darauf auch noch seine Mutter an einem Schlaganfall verstarb wurde sein Zustand nicht besser im Gegenteil. Er zog sich zunehmend zurück, er wurde ein Sonderling.
Das Jugendamt nahm sich seiner an und wollte ihn aus dem elterlichen Haus holen. Ihm war alles egal, er lebte still und leise in seiner eigenen zerbrochenen Welt.
Vor dem Heim oder einer psychiatrischen Unterbringung bewahrte ihn dann aber seine Großmutter. Sie kämpfte für und um ihn und nach einem halben Jahr bekam sie das Sorgerecht für den Knaben zugesprochen.
Alsbald zog sie dann auch bei ihm im ehemaligen Haus seiner Eltern ein.
Fortan kümmerte sie sich um ihn, zog ihn auf. Sie half ihm wieder ins Leben zurück zu finden. Später lehrte sie ihn, wie er selbst zurechtkommen konnte. Sie zeigte ihm das Kochen, Ordnung halten, und sogar, wie man seine alten Socken wäscht. Er liebte seine Oma dafür.

Es war eine schöne Zeit – bis sie durch einen bizarren Unfall starb.

Es war Herbst, er gerade zweiundzwanzig geworden und seine Großmutter und er fuhren mit dem Rad durch an einem Park entlang, sie fuhr voraus. Gerade als sie an einem Trupp Arbeiter vorbeifuhren, die mit ihren Werkzeugen die Bäume stutzten, geschah es.
Eine schwarze Limousine bog mit überhöhter Geschwindigkeit von einem Zubringer auf die Straße. Das Heck brach in Höhe seiner Großmutter aus, erwischte sie und schleuderte sie mitsamt dem Fahrrad kopfüber in den Häcksler, den die Baumarbeiter für Ihr Werk benötigten. Leider war die tödliche Maschine in vollem Betrieb.
Noch bevor einer der Männer oder Etienne reagieren, den Notausschalter betätigen konnte, war seine Großmutter zerfleischt worden. Es lagen schon Fetzen von Gewebe, Knochen und Innereien seiner geliebten Oma auf der Ladefläche des Fahrzeugs vor dem Häcksler.
Während das schwarze Fahrzeug davon brauste, sah Etienne alles wie in Zeitlupe. Die Fetzen des Fleischs, die durch die Luft flogen, die strampelnden, zitternden Beide seiner Großmutter, die hektisch agierenden Arbeiter.
Er hielt sein Fahrrad an, stieg ab und blieb stehen. Es war alles dumpf, träge wie gestockter Honig. sein Instinkt wollte es nicht an sich heranlassen, doch binnen Sekunden brach in ihm alles zusammen. Er fiel wieder in sein Loch.
Am Rande bemerkte er später die Gendarmerie, die Sanitäter und auch den Psychologen, die ihn aus der Lethargie herausholen wollte.

So landete er schließlich doch noch in der Klapse und es dauerte mehrere Jahre, bis er das Tal durchschritten hatte und irgendwann eine Ausbildung begann, die er abschloss. Er bekam später einen Job als Verkäufer und wurde so zu dem Vertriebler, der er jetzt war.

Als dies, die ganze Vergangenheit, ging ihm durch den Kopf, während er durch das Gebäude gezerrte und geschleift wurde – nur diesmal ohne Abdeckung für seine Scham.

Etienne wurde in einen Raum gedrängt. Es war ein Verhörraum, wie man ihn aus Filmen kennt. Vielleicht neun Quadratmeter mit leichten Stühlen und einem Stahltisch an dem seine Handschellen fixiert wurden. Die Farbe des Raumes war ein schmutziges Grün, welches lediglich durch einen großen Spiegel unterbrochen war. Dieser war vermutlich halbdurchlässig.
Der metallene Stuhl, der ihm in die Knie gedrückt wurde, sodass er sich setzen konnte war unangenehm kalt auf seinem nackten Gesäß – und an anderen Stellen.
Die Polizisten verließen den Raum, dabei hatten sie noch nicht einmal seine Fingerabdrücke genommen.
Einige Minuten war Etienne nun allein und schaute apathisch auf einen fixen Punkt in der Wand. Ihm war die Zeit die verstrich völlig egal, sein Gedanken kreisten in Dauerschleife um die Verluste, die er in seinem Leben erlitten hat. Papa, Mama, Oma. Papa, Mama, Oma… Papa, Mama, O…

Die Tür flog auf und krachte gegen die Wand. Ein Mann in ziviler Kleidung kam herein. Er sah mitgenommen und übermüdet aus. Langsam nahm Etienne den Mann zur Kenntnis.
In einem Anflug von Belustigung kam ihm der Gedanke, dass man diesen Herrn lediglich in ein rotes Kostüm hätte stecken müssen und schon wäre er als Weihnachtsmann durchgegangen. Der ergraute, vom Nikotin verfärbte, Bart, die buschigen Augenbrauen, die über den klaren, blauen Augen hingen, waren ein Argument. Aber vor allem die Leibesfülle der Person, die sich auf der anderen Seite des Tisches auf einem Stuhl niederließ, sorgte sicher dafür, dass er von seiner Familie als Santa Claus zu Weihnachten angeheuert wurde.

Der Mann stellte sich nicht vor, doch legte er vor Etienne Bilder aus. Zunächst eine Reihe von sechs Bildern, auf denen teils noch verpacktes, teils geöffnetes Hackfleisch zu sehen war.
Zeremoniell legte der Mann nun Bilder von Geschäften, größtenteils Supermärkte, über die Hackfleischbilder.
Etienne kam sich grade schlicht veralbert vor. Klar, er kannte das eine oder andere Geschäft, er hatte dort schon oft eingekauft. Doch was sollte das jetzt? Weshalb wurde er gekidnapped? Was wurde ihm hier vorgeworfen?
Als der Polizist die dritte Reihe an Bildern auslegte dauerte es nur einen kleinen Moment doch dann Begriff er, was ihm vorgeworfen wurde.
Auf je einen Stapel der Bilder vom Hackfleisch und der Geschäfte legte der Mann das Bild einer Person. Eines älteren, dunkelhäutigen Mannes, einer jungen Brünetten, eines rothaarigen Teenagers, eines kleinen Mädchens, einer älteren Frau und das eines Babys.
Augenblicklich ereilte ihn ein Brechreiz und den mickrigen Inhalt seines Magens ergoss sich über dem Steinboden. Selten in seinem Leben hat er sich so flau gefühlt. So bewusst kraftlos.
Er sollte das getan haben. Er? Etienne? Was für ein kranker Film lief hier ab?
„Nun, was haben sie dazu zu sagen?“, fragte der Polizist, doch im selben Moment klopfte es an der Tür. Sie öffnete sich und ein weiterer ziviler Beamter kam herein.
Mit sichtlich erschrockener Mine im fahlen Gesicht erklärte er „Wir haben den Falschen. Das Hotel rief grade an und sagte, dass die Nummern an der Zimmertüre manipuliert wurden. Dadurch habe man uns zum falschen Zimmer geschickt. Irgendjemand habe dies wohl letzte Nacht umgeändert“. Und an Etienne gerichtet, während er schnell die Bilder einsteckte: „Bitte verzeihen Sie mein Herr, wir klären das es….“, doch Etienne hörte schon nicht mehr zu, es war einfach alles zu surreal, einfach nicht wahr. Er lag noch immer im Bett und träumte nur. Es musste so sein.
Doch später merkte er, dass es nicht so war. Er realisierte die Situation zunehmend. Er bekam von den Beamten Kleidung, sodass er nicht mehr nackt war.
Es folgte ein Gespräch, eine Entschuldigung, dann noch ein Gespräch und noch eine Entschuldigung. Den Polizisten war sehr unwohl, dass sie so verfahren waren, ihn so zu überrumpeln – ohne Stellungnahme nur anhand der ihnen vorliegenden Indizien.
So verging der Vormittag bis Etienne von den Polizisten wieder zum Hotel zurückgebracht wurde.
Dort entschuldigte sich der Hotelchef auch, als er ihn am Eingang erwartete.
Als Wiedergutmachung bekam Etienne die Präsidentensuite für den Rest des Aufenthalts kostenfrei zur Verfügung gestellt.
Nachdem er seine Sachen gepackt und in die Luxusgemächer brachte, legte er sich zunächst hin und schließ ein paar Stunden.
Dann zog er sich an und ging in die Bar, an der er sich Sherry bestellte.

***

Er überlegte, ob er das leere Glas zurück ins Hotel bringen sollte, doch er entschied sich dafür, es einfach in den nächstgelegenen Mülleimer zu werfen. Den Blick über die Strandpromenade sah er die vielen Lichter des Laternenfestes. Eine Himmelslaterne nach der anderen erhob sich vom Strand in das Firmament.
Kurzerhand zog er seine Schuhe aus und spazierte zwischen den Menschen über den Strand und erfreute sich an den vielen verschiedenen Farben und Formen, in denen die Laternen gefertigt waren.
Nach einiger Zeit, es war wohl gegen Mitternacht, beschloss er dann zurück zum Hotel zu gehen. Am nächsten Tag hatte er ein wichtiges Verkaufsgespräch, da wollte er ausgeruht sein.

In der Herberge angekommen machte er erst einen kleinen Umweg über die Bar und holte sich doch noch ein Glas Sherry, welches er sofort trank und sich noch eins für den Weg geben ließ.
Zunächst steuerte er dann sein altes Zimmer an, bis ihm einfiel, dass er ja nun die Präsidentensuite hatte.
Also fuhr er mit dem Aufzug bis in die oberste Etage, nippte hin und wieder an seinem Glas.
Er öffnete die Tür zu den Gemächern mit seiner Karte. Das Licht war ausgeschaltet, nur im hinteren Bereich der Suite brannte eine Tischlampe. Mehr brauchte er auch nicht, dachte Etienne und ging Richtung Schlafzimmer.
Die Tür ließ er hinter sich ins Schloss fallen. Nach wenigen Schritten bemerkte er, dass er auf einer dicken Plastikfolie ging. Er blieb stehen und augenblicklich spürte er einen Stich in den Nacken. Der Versuch sich zu bewegen war erfolglos. Etienne fiel Kopf voraus auf den Boden.
Er sah noch, wie die Plastikfolie das Licht spiegelte, welches im selben Moment anging wie der überdimensionierte Fleischwolf, der plötzlich in diesem Raum war. Diese Ironie. Er wollte noch ein hysterisches Lachen hervorbringen, doch im selben Moment wurde ihm ein letztes Mal vor den Augen schwarz.

Author: Bernd R. Franke

Bernie ist ein spätes Winterkind aus dem Jahre 1980. Verheiratet ist er glücklich mit der Mutter seiner fünf Kinder. Hobbies: Nachdenken, Schreiben und Sport. Sein Lieblingsgenres sind SciFi, Fantasy und Erotik.

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